29.3.11

HUND

Auszug aus "Das Sloterdijk-Alphabet: Eine lexikalische Einführung in Sloterdijks Gedankenkosmos" von Holger von Dobeneck

Hund
Hundephilosophen nannte man in Athen jene philosophierenden Landstreicher, die, wie Willy Hochkeppel es in einem Aufsatz nannte, die Hippies und Aussteiger der Antike waren. Prototyp ist Diogenes, der angeblich in der Tonne hauste und von Alexander dem Großen gefragt wurde, ob er einen Wunsch habe, nur gesagt haben soll, geh mir aus der Sonne. Die Hundephilosophen waren in stetem Kampf gegen die Höhenflüge der hochnäsigen, elitären Akademiephilosophen aus der Schule Platos. Sloterdijk bezeichnet die Hippiephilosophen als Kyniker und setzt diesen Begriff von dem Zynismus der Herrenschicht ab. Sowohl Kynismus als auch Zynismus sind Bewußtseinsformen im antagonistischen Kulturkampf, der sich durch die Jahrhunderte zieht. Es ist der Kampf von Herr und Knecht, von unten gegen oben, von Jung und Alt, von Prolet gegen Bürger und im Weltformat von dritter Welt gegen Industriestaaten. Die analysierende Deskription der Formen und Inhalte dieses "Lotta continua" der Geschichte hat sich Sloterdijk vor allem in seinem ersten Hauptwerk "Kritik der zynischen Vernunft" zur Aufgabe gemacht und dabei eine kombattante Erkenntnistheorie entwickelt. Vieles aus dem geschichtlichen Waffenarsenal der Begriffe und Methoden der Kombattanten begegnet einem in der Polit- und Kulturarena der Gegenwart. Dies macht die Aktualität Sioterdijks aus. Die Hundephilosophen pißten sozusagen gegen den idealistischen Wind der Hochkultur. Mit Vorliebe benützten sie Vokabeln aus der Genital- und Analsphäre, gaben sich ungehemmt fleischlichen Genüssen hin und störten, wo sie konnten, provozierten, attackierten und karikierten die Verlautbarungen der Akademie. Die Bezüge zu dem Verhalten der 68er sind evident und von Sloterdijk gewollt. In seiner "Kritik der zynischen Vernunft" beschäftigt er sich daher eingehend mit Brüsten, Ärschen und Genitalien eingedenk der Tatsache, daß schon Diogenes öffentlich auf dem Marktplatz masturbierte. Nun war die Intention der 68er Kulturrevolution nach Sloterdijk. der zu ihrer hedonistischen Fraktion gehörte, vor allem von dem Ziel bestimmt, die Gesellschaft orgasmusfähig zu machen. Von Oswald Kolles rührenden Versuchen bis zum Big-business der Beate Uhse ist zumindest die Vorspielproblematik in alle Kanäle gelangt, und das verschüttete Kulturgut von 1968 wurde von den breiten Massen wohlwollend rezipiert. Amerikanische Massenkultur und distanzloses Gleichheitsideal haben sich sozusagen mit dem Demokratiegebot des Grundgesetzes verbündet, so daß Philosophie. Kontemplation und Reflektion unter Kulturverdacht geraten sind. ein , wenn man so will, später Endsieg der Hundephilosophie. Sloterdijk nimmt dabei eine ambivalente Rolle ein. Er hört auf das Knurren der Kyniker und nimmt dennoch in einer hochreflexiven und artifiziellen Sprache unter Ausnutzung aller Bildungsregister eine Bestandsaufnahme der abendländischen Tradition vor. Kein Wunder also. daß seine hermeneutisch-phänomenologischen Veranstaltungen nicht von jedem ver_ standen werden, und dennoch hat sich ein hochgestimmter Kreis gefunden, der mit Genuß seinen Reflexionsübungen lauscht und sich gerne in seine assoziativen Begriffsnetze einbinden läßt und sich davon erkenntnistheoretischen Gewinn erhofft. Die Entwicklung einer differenzierten Sprachspielfreude nimmt eigentlich auch kein Wunder bei den alltäglichen Politikerplattheiten.
Quelle: http://books.google.de/books?id=0U5d6RT-E54C&pg=PA120&lpg=PA120&dq=hundephilosophie+diogenes&source=bl&ots=o8AxHJM7zL&sig=xSTyIzAK3OQEU8FvEqgtc5Gu-no&hl=de&ei=8PqRTcivJ47Nswavg4jQBg&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=5&sqi=2&ved=0CC8Q6AEwBA#v=onepage&q=hundephilosophie%20diogenes&f=false

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