11.3.11

Über abwesende Mäuse

Petrus Akkordeon schrieb in facebook: „ein chinesischer Philosoph bedrängte mich einstmals auf einer Vernissage mit der Behauptung: du kannst bestimmt kein ‘abwesend’ zeichnen.”

Ich vermute, man tut es in gewisser Hinsicht immer.

Nehmen wir an, jemand (in diesem Fall Vera Kattler) zeichnet oder malt eine Maus. Hat man das Ergebnis; also das Maus-Bild vor sich, verhält es sich damit ein klein wenig wie mit Wittgensteins Hasenente: Je nachdem, wie ich mich selbst einstelle, wie ich hinschaue, sehe ich mal dies, mal das: mal eher Farb-, Finger- oder Kratzspuren auf Papier - mal eher eine kleine Maus. *

In den Farbspuren ist genau das, wonach der chinesische Philosoph fragte: da ist das „abwesend“. Und zwar aus einem ganz trivialen Grund: Die Finger, die Werkzeuge, der Malprozess, das Atelier, die Situation, in der das alles geschah … alles das ist „abwesend“. Man kann in einem ziemlich präzisen Sinn - eigentlich sogar ausschließlich - das  "abwesend" zeichnen.

mausausschnitt

Das gilt auch für die Zeit: Jeder Moment verfliegt sofort. Aus jedem Jetzt wird gleich ein "Es war einmal" :-) Doch als gemalte, gezeichnete, gekratzte Spur bleibt dieses ehemalige Jetzt (das was immer gleich wieder abwesend ist) anwesend. Indem die Farbe als Farbe (also in ihrer Materialität) anwesend ist, indem sie präsent ist, re-präsentiert sie das nicht-präsente: Sei es der Prozess des Malens, sei es die Maus, bzw. beides ineinander.

So ist es also auch mit „der Maus“: In den Spuren erscheint uns eine Maus. Aber natürlich „nur“ eine gemalte, gezeichnete, gezeigte Maus. “Die” Maus selbst ist trivialerweise „abwesend“. Man könnte – auch wenn es etwas frankophon klingen mag – aber dennoch sagen: sie ist als Abwesende anwesend.

Die  Spuren, die Farben, die Gesten, die Zeichen und Zeichnungen … all das ist stets nicht einfach nur das, was es ist; es ist viel mehr immer auch das, was es nicht ist. Es ist das „abwesend“. Warum? Weil all diese Dinge, indem sie sind auf anderes verweisen, was sie selbst eben nicht sind: seien es Mäuse oder Momente

:-)

affe

* Sicher ist die Trennung der Sichtweisen nicht so krass, wie ich es oben darstelle, man hat vermutlich stets beide Aspekte vor Augen. Aber “analytisch” kann man wohl diese beiden Aspekte unterscheiden. Vera hat in ihrem Blog mal vergrößerte Ausschnitte der Bilder gezeigt. Da sieht man ganz gut, was ich meine. Leider hab ich keinen Link dazu gefunden. Vielleicht kann Vera mir noch einen Tipp geben :-)

5 Kommentare:

  1. "So ist es also auch mit „der Maus“: In den Spuren erscheint uns eine Maus. Aber natürlich „nur“ eine gemalte, gezeichnete, gezeigte Maus. “Die” Maus selbst ist trivialerweise „abwesend“. Man könnte – auch wenn es etwas frankophon klingen mag – aber dennoch sagen: sie ist als Abwesende anwesend."

    Diese "Abwesenheit" liegt vermutlich ja auch im Begriff der "Spur" (der Farb-, Finger- oder Kratzspur auf dem Bild, oder auch des (Schrift-)Zeichens im Text). Doch andererseits könnte man vielleicht ja auch sagen: bei jeder Betrachtung, jeder Lektüre wird wiederum auch etwas von "Anwesenheit" realisiert oder aktualisiert: "die Maus", "der Prozess des Malens" oder was auch immer wird beim Anschauen in gewisser Weise neu vergegenwärtigt oder 'erinnert' :-) , indem der Betrachter (oder der Leser) der "Spur" nachgeht.*

    (*ob es vielleicht nicht doch auch gewisse Unterschiede zwischen dem Betrachten eines Bildes und dem Lesen eines Textes gibt, mal dahingestellt ...)


    "Die Spuren, die Farben, die Gesten, die Zeichen und Zeichnungen … all das ist stets nicht einfach nur das, was es ist; es ist viel mehr immer auch das, was es nicht ist."

    Vielleicht Überlegungen, mit denen man auch an Derridas "animots" anknüpfen könnte ...?

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  2. Hallo Jörn!

    Du schriebst: "Die Spuren, die Farben, die Gesten, die Zeichen und Zeichnungen … all das ist stets nicht einfach nur das, was es ist; es ist viel mehr immer auch das, was es nicht ist. Es ist das „abwesend“."

    Das ist für mich ein neuer Gedanke, den ich aber sehr überzeugend finde und der mich noch beschäftigen wird.

    Und mir fällt ergänzend der Begriff der "Dialektik" ein. Passt der da hinein? Vielleicht eher in den Prozess des Einkreisens wie ihn "flommersfeld" beschrieben hat.

    Jürgen

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  3. Dialektik, das Thema hatte ich vor ein paar Jahren im Abitur, habe leider nicht so gut abgeschnitten:) Dennoch erlaube ich mir mal, das zu erzählen, was noch "hängengeblieben" ist.
    Dialektik bedeutet doch, dem "Gegenüber" Widersprüche aufzuzeigen, damit dieser sein Nichtwissen begreift, ist ja eigentlich eine Gesprächsführung nach Sokrates, der seine Gesprächspartner ziemlich "auf die Palme" gebracht hat:) Das Kreisen der Gedanken, der Prozess/Ablauf des Einkreisens würde schon passen, weil der Betrachter/Leser seine Sichtweise ändern kann (Beispiel Hasen-Ente). Doch was bedeutet hier Nichtwissen? Wer macht einen darauf aufmerksam?
    Ein Text neben der Zeichnung/Gemälde als Aufklärung?
    Das ist mir noch ein Rätsel:)

    Gruß Julia

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  4. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  5. Jörn: Die Spuren, die Farben, die Gesten, die Zeichen und Zeichnungen … all das ist stets nicht einfach nur das, was es ist; es ist viel mehr immer auch das, was es nicht ist."

    Dorit: Vielleicht Überlegungen, mit denen man auch an Derridas "animots" anknüpfen könnte ...?

    Dorit: Trari, trara, die Post(-moderne) ist da :-)) ...

    Jürgen: Das ist für mich ein neuer Gedanke, den ich aber sehr überzeugend finde und der mich noch beschäftigen wird.

    Man könnte diese Gedanken sicher dem einen oderen anderen Postmodernen Philosophen zuordnen. Dorit hat nicht zu Unrecht Derrida genannt. Einige andere kommen aber sicher auch noch in Frage.

    Ob man das Dialektik nennen kann? Ich denke, der Begriff Dialektik hat so viele (vielleicht vage zusammenhängende) Bedeutungen - da kommt es auf eine Nuance mehr nicht mehr an :-) Naja, ich rede natürlich Unfug. Ich selbst würde das nicht Dialektisch nennen, kann aber gut verstehen, dass man versucht ist es zu tun.

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